2012. febr. 29.

Walter F. Otto: Die Götter der Griechen: Apollon




Apollon ist der griechischste aller Götter. Wenn der griechische Geist in der Olympischen Religion seine erste Ausprägung gefunden hat, so ist es Apollon, dessen Gestalt ihn am deutlichsten offenbart. Wiewohl der dionysische Enthusiasmus einmal eine bedeutende Macht gewesen ist, so kann doch kein Zweifel sein, daß es die Bestimmung des Griechentums war, diese und alle Maßlosigkeit zu überwinden, und daß seine großen Repräsentanten sich mit ganzer Entschiedenheit zum apollinischen Geist und Wesen bekannt haben. Dionysisches Wesen will den Rausch, also die Nähe; apollinisches dagegen will Klarheit und Gestalt, also Distanz. Dieses Wort drückt unmittelbar nur etwas Negatives aus, dahinter aber steht das Positivste: die Haltung des Erkennenden.

Apollon lehnt das allzu Nahe ab, die Befangenheit in den Dingen, den verschwimmenden Blick, und ebenso das seelische Ineinsfließen, die mystische Trunkenheit und ihren ekstatischen Traum. Er will nicht Seele, sondern Geist. Das bedeutet: Freiheit von der Nähe mit ihrer Schwere, Dumpfheit und Gebundenheit, vornehmen Abstand, ausgeweiteten Blick.

Mit dem Ideal der Distanz tritt Apollon nicht bloß zum dionysischen Überschwang in Gegensatz. Für uns ist es noch bedeutsamer, daß er damit den schärfsten Widerspruch gegen das, was später im Christentum zu höchsten Ehren gelangen sollte, erhebt.

Wie er selbst seine Persönlichkeit nicht betont und mit seinen Delphischen Sprüchen niemals für sich selbst Lobpreis und Ehrung vor allen andern beansprucht hat, so will er auch von dem ewigen Wert des menschlichen Individuums und der Einzelseele nichts wissen. Der Sinn seiner Offenbarung ist, daß sie den Menschen nicht auf die Würde seines Eigenwesens und die Tiefinnerlichkeit seiner individuellen Seele, sondern auf das, was über der Person ist, auf das Unwandelbare, auf die ewigen Formen hinweist. Was wir gewohnt sind, Wirklichkeit zu nennen, das konkrete Dasein mit seiner Selbstempfindung, vergeht wie ein Rauch; das Ich mit seinem Eigengefühl, sei’s Lust oder Schmerz, Stolz oder Demut, versinkt gleich einer Welle. Aber ewig bleibt und „göttlich unter Göttern die Gestalt“. Das Sonderliche und Einmalige, das Ich mit seinem Hier und Jetzt ist nur der Stoff, an dem die unvergänglichen Formen erscheinen. Wenn der Christ sich demütigt und gewiß ist, eben damit der Gottesliebe und Gottesnähe würdig zu werden, so verlangt Apollon eine andere Demut. Zwischen dem Ewigen und den irdischen Erscheinungen, zu denen auch der Mensch als Individuum gehört, ist eine Kluft. Das Einzelwesen reicht nicht hinüber in das Reich der Unendlichkeit. Was Pindar im Geiste Apollons seinen Hörern einschärft, ist nicht die mystische Lehre von einem seligen oder unseligen Jenseits, sondern das, was Götter und Menschen von einander unterscheidet. Wohl haben beide dieselbe Urmutter, aber flüchtig und nichtig ist der Mensch, und nur die Himmlischen dauern ewig (Pind. Nem. 6, 1 ff.). Wie ein Schatten gleitet das Menschenleben dahin, und wenn es glänzt, ist’s ein Strahl von oben, der es vergoldet (Pindar Pyth. 8, 95 ff.). Darum soll der Mensch sich nicht vermessen, den ewigen Göttern ebenbürtig zu sein, sondern seine Grenze erkennen und bedenken, daß die Erde sein Kleid sein wird (Pindar Isthm. 5, 14ff; Nem. 11, 15 f.). Der Kranz des Lebens, den auch der Sterbliche gewinnen kann, ist das Gedächtnis seiner Tugenden. Nicht seine Person, sondern, was mehr ist, der Geist seiner Vollkommenheiten und Schöpfungen überwindet den Tod und schwebt im Gesänge ewig jung von Geschlecht zu Geschlecht. Denn nur die Gestalt gehört dem Reich der Unvergänglichkeit an.

In Apollon grüßt uns der Geist der schauenden Erkenntnis, der dem Dasein und der Welt mit einer Freiheit ohnegleichen gegenübersteht – der echt griechische Geist, dem es beschieden war, nicht bloß so viele Künste, sondern schließlich auch die Wissenschaft hervorzubringen. Er vermochte es, Welt und Dasein mit einem von Begier und Erlösungssehnsucht gleich freien Blick als Gestalt anzuschauen. In der Gestalt ist das Elementare, Augenblickliche und Individuelle der Welt aufgehoben, ihr Sein aber anerkannt und bestätigt. Sie zu treffen, erfordert eine Distanz, zu der alle Weltverneinung nicht fähig gewesen ist.

Das Bild des ‚Ferntreffers’ Apollon ist die Offenbarung einer einzigen Idee. Ihr Inhalt gehört nicht der Sphäre einfacher Lebensbedürfnisse an, und die so beliebten Vergleiche mit primitiven Glaubensformen sind in diesem Falle ganz nutzlos. Es ist eine geistige Macht, die hier ihre Stimme erhebt. Und sie ist bedeutend genug, um einem ganzen Menschentum Form zu geben. Sie kündet die Gegenwart des Göttlichen nicht in den Wundertaten einer übernatürlichen Kraft, nicht in der Strenge einer absoluten Gerechtigkeit, nicht in der Fürsorge einer unendlichen Liebe, sondern in dem sieghaften Glanz der Klarheit, im sinnvollen Walten der Ordnung und des Ebenmaßes. Klarheit und Gestalt sind das Objektive, dem auf Seiten des Subjektes Distanz und Freiheit entsprechen. Und in dieser Haltung tritt Apollon vor die Menschenwelt. In ihr prägt sich seine helle, unbeschwerte, lichthaft durchdringende Göttlichkeit aus.

Wir verstehen es gut, daß er, dessen sublimes Sein weder in einem Element noch in einem Naturvorgang begründet war, schon verhältnismäßig frühzeitig mit der Sonne in Verbindung gebracht werden konnte. Schon in einer verlorenen Tragödie des Äschylos, in den Bassarai, hieß es, daß Orpheus den Helios als größten aller Götter verehrt und ihm den Namen Apollon gegeben habe. Und derselbe Dichter hat im Prometheus (22) die Strahlen der Sonne mit dem Worte φoτβoς charakterisiert, das wir als Beinamen des Apollon kennen, und zwar als seinen berühmtesten, Phoibos. Nun stellte sich auch das gewaltige Bild ein, daß Apollon mit den Klängen seiner Leier das Weltall in harmonischer Bewegung erhält (vgl. Orph. Hymn. 34,16ff.), und das Plektron, mit dem er sie schlägt, ist das Licht der Sonne (vgl. Skythin. fragm. 14; und dazu Neustadt, Hermes 1931,S. 389).

Walter F. Otto

Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes 
Frankfurt/M. 1970, S. 99-102

http://www.velesova-sloboda.org/misc/altgriechen-artikelsammlung.html

 
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